Zwischen 2010 und 2022 hat sich die Arbeitsmarktanspannung in Deutschland – also das Verhältnis aus offenen Stellen und arbeitsuchenden Personen – mehr als verdreifacht. Vor 13 Jahren gab es lediglich 0,17 offene Stellen pro arbeitsuchende Person gab. Dieser Wert stieg bis Mitte 2022 auf 0,56 offene Stellen. Damit fällt es Betrieben zunehmend schwer, geeignete Arbeitskräfte zu rekrutieren. Dies zeigt eine Studie des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Unterm Strich bremst die steigende Knappheit an Arbeitskräften das betriebliche Beschäftigungswachstum. Die IAB-Forscher kommen nach einer Simulation zu dem Schluss, dass ohne die wachsende Zahl fehlender Arbeitskräfte die Beschäftigung in Deutschland um zusätzliche 1,8 Millionen Jobs hätte steigen können.
„Der Anstieg der Anspannung ist in erster Linie auf die Zunahme der offenen Stellen zurückzuführen, deren Bestand zwischen 2010 und 2022 um 139 Prozent auf rund 2 Millionen kletterte“, berichtet Mario Bossler vom IAB. „Im gleichen Zeitraum sank die Zahl der arbeitssuchenden Personen um 28 Prozent auf rund 4 Millionen.“ Diese Entwicklung führt zu deutlich höheren Einstellungskosten bei Ausschreibung auf mehr Suchkanälen und Personalauswahl.
Suche nach Fachkräften bleibt
Die Anspannung am Arbeitsmarkt hat sich über alle Berufsbereiche hinweg erhöht. Insbesondere die Arbeitsmärkte in Süddeutschland weisen eine sehr hohe Anspannung auf. Zur Jahresmitte stieg allerdings saisonal unüblich in Bayern die Zahl der Arbeitslosen auf exakt 243.962. Dem standen laut der Regionaldirektion Bayern genau 151.112 als offen gemeldete Stellen gegenüber. Diese Nachfrage nach Arbeitskräften gilt in der langfristigen Betrachtung – als sehr hoch.
Klaus Beier ist stellvertretender Vorsitzender der Geschäftsführung der Regionaldirektion Bayern, der Bundesagentur für Arbeit. Er sieht in seinen Zahlen Anzeichen für eine konjunkturelle Abschwächung. „Der eklatante Arbeits- und Fachkräftemangel überlagert, dass sich diese konjunkturelle Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt widerspiegelt.“ In der Sparte Zeitarbeit, in Bayern die Branche mit den meisten unbesetzten Jobs, gingen die neuen Gesuche im ersten Halbjahr 2023 um fast 15 Prozent zurück. Gleichwohl sind in diesem Segment fast 35.000 Stellen zu besetzen. Der drittgrößte Wirtschaftszweig auf Mitarbeitersuche entfällt auf wissenschaftliche und technische Dienstleistungen. Hier legten die Gesuche um rund 20 Prozent auf knapp 20.000 Menschen zu.
„Die Gewinnung von Fachkräften ist eine der großen Aufgaben, die uns in den nächsten Jahren begleiten wird“, führt Beier weiter aus. „Es gilt alle Potenziale zu aktivieren, Möglichkeiten zu ergreifen, Fachkräfte aus dem Ausland schnell nach Deutschland bzw. Bayern zu holen.
IW Köln: „Wir müssen mehr arbeiten“
„Wir müssen wieder mehr arbeiten“, sagt dagegen Michael Hüther, Chef des arbeitgebernahmen Instituts IW Köln der Rheinischen Post. „Uns werden bereits 2023 gut 4,2 Milliarden Arbeitsstunden jährlich fehlen. Die werden wir nicht mit Zuwanderung bekommen“, heißt es weiter. Hüther erteilt in dem Interview dem „unrealistischen Traum der Vier-Tage-Woche“ eine Absage, „wir brauchen eine Ausweitung der individuellen Arbeitszeit im Jahr“.