Die deutschen Sozialsysteme ächzen unter ihrer Last. Die finanziellen Verpflichtungen wachsen, die Einnahmen halten nicht Schritt. Die Pflegeversicherung pfeift aus dem letzten Loch, den Krankenkassen droht trotz Beitragserhöhung in den nächsten Jahren eine Milliardenlücke. Und auch die 100 Milliarden Euro, die der Bund alljährlich in die gesetzliche Rente pumpt, verhindert keine Armut im Alter. Vor diesem Hintergrund setzte das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) das Thema längere Arbeitszeit auf die Agenda seiner Nürnberger Gespräche.
Auf dem Podium bewertete Evelyn Räder, Abteilungsleiterin beim Deutschen Gewerkschaftsbund, eine längere Lebensarbeitszeit als „Mythos“. Der absehbare Schwund der Babyboomer in die Rente lasse sich nicht durch das Arbeitskräftepotential an Frauen, Rentnern, Geflüchteten oder angeworbenen Arbeitsmigranten ausgleichen. „Das Rentenalter auf 70 Jahre anzuheben halte ich nicht für den richtigen Weg.“
Für die Chefin der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles, ist vor allem berufliche Flexibilität ein Schlüssel, um bis zur regulären Altersgrenze zu arbeiten. „Wir müssen und von den Gedanken verabschieden, mit dem Job, den man gelernt hat, in den Ruhestand zu gehen.“ Für eine Frühverrentung, die bis in die 1990er Jahren auch von Vater Staat unterstützt wurde, gibt es heute „keinen Euro mehr“. Heute sei es allein eine Frage der Sozialpartner, die auf betrieblicher Ebene entschieden werde.
Jeder vorzeitige Ruhestand sei für die BA eine schlechte Nachricht. „Fachkräfte werden dem Markt entzogen.“ Mit einer „Arbeitsmarkt-Drehscheibe“ versucht die BA, bei Standortschließungen oder Entlassungen die Fachkräfte in anderen Unternehmen unterzubringen. „Der Wechsel von Continental zu Siemens in Hannover funktioniert bei Jüngeren“, bei einem goldenen Handschlag klappe es aber nicht.
„Altersarmut durch Einkommensarmut“
Gewerkschafterin Räder erinnerte daran, dass „Altersarmut durch Einkommensarmut“ entsteht. Sie hält die Minijob-Regelung aus volkswirtschaftlicher Sicht für „völligen Unsinn“. Der Rentenanspruch von Minijobbern werde niemals über der Grundsicherung liegen.
Dem stimmt der scheidende Vizedirektor des IAB, Ulrich Walwei, zu „Die Anreize sind wirklich kontraproduktiv.“ Ein Umbau der gesetzlichen Rentenversicherung etwa nach dem steuerfinanzierten Vorbild von Skandinavien wäre theoretisch zwar möglich. „Das wäre ein Riesenumbau über Generationen.“ Eine private Vorsorge als Ergänzung hält er nicht für möglich. Menschen mit geringer Rente hatten auch ein geringes Lebenseinkommen. Sie hätten keine Mittel um zusätzlich vorzusorgen aufbringen können.
Gleichwohl plädierte Nahles dafür, „stärker die Aktienmärkte als dritte Säule der Rentenvorsorge zu nutzen. Selbst bei der Betriebsrente habe sie einst als Arbeitsministerin die Möglichkeit dafür geschaffen. „Es ist dumm aus Arbeitsnehmersicht, den Kapitalmarkt nicht zu nutzen.“